Die Angst vor dem Erwachsenwerden ist heutzutage weit verbreitet. Viele Menschen scheuen sich davor, ihr Leben in die eigene Hand zu nehmen und somit ihr Schicksal selbst zu bestimmen. Viel verlockender ist die Vorstellung, in einer permanenten kindlichen Entwicklungsstufe zu verharren, in der sie keinerlei Verantwortung übernehmen müssen.
Und der Verzicht auf jegliche Verantwortung scheint auf den ersten Blick einige Vorteile mit sich zu bringen: Niemand, der ihnen Schuldvorwürfe machen kann. Niemand, der sie für eine bestimmte Tat zur Rechenschaft ziehen könnte. Ein Leben ohne negative Konsequenzen könnte man fast schon sagen. Aber ist das wahr?
Ist es überhaupt möglich, sein ganzes Leben in einer kindlichen Entwicklungsstufe zu verbringen und auf jegliche Verantwortung zu verzichten? Ist es ratsam, sich der Angst vor dem Erwachsenwerden zu ergeben? Und was genau ist es eigentlich, das die Angst vor dem Erwachsenwerden verursacht? Mit diesen Fragen möchte ich mich in diesem Beitrag beschäftigen.
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Was bedeutet erwachsen werden?
Um die Angst vor dem Erwachsenwerden zu verstehen, musst du zunächst einmal begreifen, was unter dem Begriff überhaupt zu verstehen ist. Denn Fakt ist, dass jeder den Begriff in einem unterschiedlichen Kontext verwendet und folglich etwas anderes darunter versteht. Und das erschwert natürlich die objektive Diskussion darüber. Wiederum andere glauben, dass das Erwachsenwerden doch ein automatischer Prozess sei, der überhaupt keiner Diskussion bedarf. Die Antwort darauf ist: Ja und Nein.
Es stimmt, dass bestimmte Aspekte des Erwachsenwerdens automatisch ablaufen. Allen voran der Bereich des physischen Erwachsenwerdens. Abgesehen von extremen Fällen, bei denen manche Menschen Gewalt in der Kindheit erfahren, läuft der Prozess des körperlichen Wachstums meist ohne Probleme ab. Die Pubertät schlägt ein, Muskelzellen verdoppeln sich und die Körpergröße nimmt zu.
Weniger automatisch hingegen läuft der Prozess des psychischen Erwachsenwerdens ab. Beziehungsweise der emotionalen Reife oder Unabhängigkeit. Dieser Vorgang ist mit weit mehr Hindernissen verbunden und nur die wenigsten Menschen erreichen problemlos diesen Zustand. Doch wieso eigentlich? (Lesetipp: Die Ursachen der emotionalen Abhängigkeit)
Von Abhängigkeit zur Unabhängigkeit
Wir Menschen werden in einem Zustand vollkommener Abhängigkeit geboren. Obwohl wir bereits Bedürfnisse und Wünsche erspüren, sind wir verständlicherweise noch nicht dazu in der Lage, sie selbst zu befriedigen. Daher brauchen wir anfangs unsere Eltern, die sich um uns kümmern und die Verantwortung für unsere Befindlichkeiten übernehmen.
Doch die Hauptaufgabe unserer Eltern besteht im Wesentlichen darin, uns Schritt für Schritt in die Unabhängigkeit zu führen. Dafür zu sorgen, dass wir jeden Tag etwas eigenständiger werden. Selbstbestimmte Verhaltensweisen immer mehr zu ermuntern.
In der Praxis sieht das dann oft so aus, dass du beispielsweise anfängst, deinen Müll selbst herauszubringen. Oder, dass du selbst zur Schule gehen und dich eigenständig um deine Hausaufgaben kümmern sollst. Das heißt: kleine und altersgerechte Verantwortungen.
Doch mit steigendem Alter werden natürlich auch die Verantwortungen komplexer, die du übernehmen musst. Beispielsweise musst du die Verantwortung für deine Finanzen übernehmen, damit du selbst für dich sorgen kannst. Anfangen selbständig zu denken, damit du Sachen verstehen und unabhängig bewerten kannst. Und natürlich die Verantwortung für die Erfüllung deiner Bedürfnisse und Wünsche übernehmen.
Erwachsenwerden: Die Hindernisse im Leben
Das Übernehmen obiger Verantwortungen bezieht sich natürlich auf den Idealfall. Denn wie gesagt: In der Realität kommt es nur selten vor, dass dieser “Unabhängigkeitsprozess“ problemlos abläuft. Er kann nämlich in jedem Punkt aus verschiedensten Gründen blockiert und aufgehalten werden.
Ein mögliches Hindernis hierbei können die destruktiven Verhaltensweisen deiner Eltern sein. Wenn deine Eltern an deinen Fähigkeiten zweifeln und dir nicht zutrauen, gewisse Sachen zu erledigen oder zu entscheiden, werden sie diese Aufgaben oft für dich übernehmen. Meist geschieht das aus Liebe zu dir und weil sie dich vor Fehlern und negativen Konsequenzen bewahren wollen. Doch in Wirklichkeit “sabotieren“ sie dir damit deine Entwicklung. (Lesetipp: Wieso du deine schlechte Kindheit dringend aufarbeiten musst)
Doch die Hindernisse für den Unabhängigkeitsprozess müssen nicht immer externer Natur sein. Sie können auch mit dir selbst und deinen Ängsten zu tun haben. Wenn du dir selbst beispielsweise nicht zutraust, Sachen verstehen und bewerten zu können, wirst du immer Verantwortungen und Unabhängigkeit scheuen. Zu groß ist für dich in einem solchen Fall die Angst, etwas Falsches zu machen und dafür in Rechenschaft gezogen zu werden. Und genau diesen letzteren Fall möchte ich im Folgenden etwas näher erläutern.
“Ich will nicht erwachsen werden“ – Die Angst vor dem Erwachsenwerden
Um dieses Leben erfolgreich meistern zu können, brauchst du das Gefühl, ein “effizienter“ Mensch zu sein. Das heißt, dass du dich den Herausforderungen des Alltags gewachsen fühlst und ihnen weitgehend gerecht werden kannst. Und damit verbunden ist deine grundlegende Überzeugung, dass du Sachen verstehen, bewerten und Lösungswege für deine Probleme entwerfen kannst. Möglicherweise klingt das alles etwas zu abstrakt. Doch in der Praxis kommt das meist in folgender Gefühlslage zum Ausdruck: “Ich kriege das alles schon irgendwie hin“.
Wenn du allerdings ein niedriges Selbstwertgefühl hast, fehlt dir dieses grundlegende Gefühl der persönlichen Effizienz. In diesem Fall hast du meist folgende Überzeugungen und Glaubenssätze über dich selbst:
“Wer bin ich schon, dass ich Sachen verstehen und bewerten kann?“
“Wer bin ich schon, dass ich Lösungswege für meine Probleme entwerfen und sie anschließend durchführen kann?“
Und natürlich ist die Tragödie vorprogrammiert, wenn du mit solchen Überzeugungen über dich selbst, gewisse Verantwortungen übernehmen musst. Denn du bist der Ansicht, dass dein Vorhaben ohnehin zum Scheitern verurteilt sei. Dass du es nicht hinkriegen wirst, diesen Verantwortungen gerecht zu werden und dich anschließend vor anderen rechtfertigen musst. (Lesetipp: Respektloses Verhalten: Wie du dir Respekt verschaffen kannst)
Schutz des Selbstwertgefühls
Um dein ohnehin niedrig und brüchiges Selbstwertgefühl zu schützen, scheust du dich also davor, Verantwortungen überhaupt zu übernehmen. Denn wenn du ihnen nicht gerecht werden kannst, bestätigt das nur deine negativen Überzeugungen über dich selbst, was verständlicherweise eine schmerzhafte Erfahrung für dich ist. Du möchtest dieses Risiko auf keinen Fall eingehen.
Und ein “positiver“ Nebeneffekt davon ist, dass du nun andere Menschen für dein Leid und Leben verantwortlich machen kannst. Denn es ist doch klar: Wenn du nicht verantwortlich für dich und dein Leben bist, müssen es folglich andere sein. Der Staat? Der Kosmos? Wer auch immer. Jedenfalls du nicht. Du bist aus dem Schneider.
Buchtipp: Wenn du wissen möchtest, wie du dein niedriges Selbstwertgefühl aufbauen, emotionale Abhängigkeiten überwinden und dich liebenswert fühlen kannst, empfehle ich dir meinen Ratgeber: Durch Mündigkeit zur Selbstliebe: Wie du emotionale Abhängigkeiten überwindest und dich liebenswert fühlst
Wie werde ich erwachsen? Verantwortung übernehmen
Obwohl der Verzicht auf die Verantwortung auf den ersten Blick einige Vorteile mit sich zu bringen scheint, ist es dennoch klar, dass diese Strategie auf lange Sicht nicht funktionieren kann. Du kannst kein erfolgreiches und glückliches Leben führen, wenn du keine Verantwortung für dich selbst und dein Leben übernimmst. Du kannst nicht unabhängig und erwachsen werden, wenn du immer darauf wartest, dass andere deine Probleme für dich lösen.
Kurzfristig kannst du möglicherweise dein brüchiges Selbstwertgefühl mit dem Verzicht auf die Verantwortung schützen. Doch auch hier richtest du auf lange Sicht mehr Schaden an, als dir diese Strategie nutzt. Wieso?
Wenn das Selbstwertgefühl bedeutet, dass du dich im Umgang mit den Herausforderungen des Alltags kompetent fühlst, wie willst du das dann erreichen, wenn du dich nicht mit den alltäglichen Problemen auseinandersetzt? Wie willst du das Gefühl haben, dein Leben zu kontrollieren und am Steuer zu sitzen, wenn du dich vor wichtigen Angelegenheiten drückst? Mit dieser Strategie wird es dir nicht möglich sein, ein hinlängliches Selbstwertgefühl aufzubauen.
Daher ist es natürlich klar, was du tun musst, um erwachsen zu werden: Du musst anfangen Verantwortung zu übernehmen.
Denn erwachsen sein bedeutet, dass du unabhängig bist. Und wie wirst du unabhängig? Indem du eigenverantwortlich lebst. Ganz einfache Rechnung. Wenn du beispielsweise die Verantwortung für die Erfüllung deiner Bedürfnisse und Wünsche nicht übernimmst, wirst du davon abhängig sein, dass andere Menschen sie für dich erfüllen.
Wenn du nicht die Verantwortung dafür übernimmst, selbständig zu denken und Sachen zu verstehen, wirst du abhängig von den Meinungen anderer Menschen sein.
Und wenn du dich nicht selbst bewertest, wirst du abhängig davon sein, wie andere Menschen dich finden und bewerten.
Erwachsen werden: Fazit und Frage
Klar ist, dass du dein Leben nicht von heute auf morgen komplett verändern kannst. Wenn du bisher nur wenig Verantwortung für dich und dein Leben übernommen hast, musst dich zunächst einmal an die Sache herantasten. Fange am besten mit kleinen Schritten an, als dich mit großen zu überfordern und daher möglicherweise aufzugeben.
Überlege dir, was die Bereiche in deinem Leben sind, die dich derzeit am meisten stören beziehungsweise die größten Probleme verursachen. Diese Bereiche deines Lebens sind oft jene, für die du kaum bis gar keine Verantwortung übernimmst. Und versuche anschließend in diesem Bereich das Ruder selbst in die Hand zu nehmen, als alles dem Zufall oder anderen Menschen zu überlassen.
Nur so kannst du erwachsen und unabhängig werden. Nur so kannst du ein hohes Selbstwertgefühl aufbauen und ein glückliches Leben führen.
Eine Frage noch zum Abschluss: Was würde sich in deinem Leben ändern, wenn du nicht mehr abhängig von anderen Menschen wärst?